2020 – Von Null auf Neun

2020 - Von Null auf Neun

Das Premierenjahr für Spielstraßen in Tempelhof-Schöneberg

Seit dem Sommer 2019 gibt es eine regelmäßige Spielstraße in der Boeckhstraße im Gräfe-Kiez und beim Besuch und auch schon beim Betrachten der Fotos kommt Freude auf. Es wird gerollert, geradelt, gehüpft, gemalt, geplauscht oder einfach nur rumgesessen und geplauscht. Parkende Autos? Fehlanzeige.


Die Idee, auch innerhalb von Kiez erFahren Spielstraßen in Schöneberg Nord zu initiieren, war schnell geboren. Denn die Verbindung zu unseren Projektzielen wie Verkehrswende, Klimaschutz, Mobilität lag für uns auf der Hand: 

Die Bezirksregion Schöneberg Nord ist dicht besiedelt und mit Grün- und Spielflächen unterversorgt. Kinder, die hier aufwachsen, benötigen neben den Spielplätzen mehr öffentlichen Raum, um sich auszutoben und in gesicherten Bereichen Rad zu fahren, auf Rollern zu sausen und ihre Geschicklichkeit auf Laufrädern auszubauen. Auch für Ball- und Fangspiele, Malen mit Kreide, Hinkekästen ist selten genug Platz.

 

Ab Mai vernetzten wir uns. Wir besuchten zwei Demospielstraßen in der Frankenstraße initiiert von Anwohnenden und Mitgliedern von Bündnis90/Die Grünen in Tempelhof-Schöneberg. Auch bei der Veranstaltung einer Spielstraße in der Brünnhildestraße – initiiert und durchgeführt von InLove – waren wir dabei. Auch die Demo für Spielstraßen in der Pohlstraße in Tiergarten-Süd überzeugte uns. 

Wir wollten jedoch nicht nur selbst aktiv werden, sondern auch innerhalb unseres Projektgebietes von Schöneberg Nord Impulse setzen.

Ende Mai luden wir KiTas und Anwohnende zu einem Webinar ein. Wir luden die langjährige Expertin Cornelia Dittrich vom Bündnis Temporäre Spielstraßen ein, denn inzwischen hatten wir erkannt, dass Spielstraßen nicht einfach so passieren. Engagement von Anwohnenden, Kenntnis der StVO, Wissen um die Anmeldung von Veranstaltungen sind ein paar der wichtigen Voraussetzungen.

 

Wir von Kiez erFahren begannen mit bwgt e.V. , bisog, und dem Nachbarschaftstreff Steinmetzstraße zu kooperieren. Wir entschieden uns zwischen Bülow- und Alvenslebenstraße zwei Demonstrationen für Spielstraßen anzumelden, komplett mit Reden, Demonstrationszug, vielen Diskussionen und auch Spielen. Hier der Bericht über die Demo am 14. August 2020. 

Als Höhepunkt der Mobilitätswoche 2020 unterstützte die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz (SenUVK) Initiativen in 24 Straßen berlinweit bei der Einrichtung einer Spielstraße am Nachmittag. Wir alle wurden sehr gut vorbereitet und mit Plakaten, Informationen und einer Spielzeugbox ausgestattet. Daneben blieb genug Raum für Eigeninitiative.

In Tempelhof-Schöneberg waren es an diesem Tag vier auf einen Streich. Dabei blieb es spannend bis zur letzten Minute vor der Eröffnung. Denn es gab Fragen zu Verkehrszeichenplänen und Baustellen und anderen Einzelheiten.

Die Unterstützung aus dem Bezirksamt hätte nicht besser sein können in diesem letzten Zeitabschnitt. Zwei Verwaltungsangestellte rauschten durch den Bezirk, checkten die Situation vor Ort, sprachen mit Baufirmen.

Am nächsten Tag machten sie dann eine weitere Runde und trafen auf spielende Kinder, schwatzende Erwachsene und dankbare Organisator*innen. Diese Gespräche waren von großer Bedeutung, da Verwaltung manchmal doch recht abstrakt und anonym bleibt. Nun war inmitten der Spielstraßen Raum für das gegenseitige Kennenlernen, das Stellen von Fragen und auch Abwägen der Vor- und Nachteile von Spielstraßen.

Im Oktober trafen sich Bezirksstadträtin Christiane Heiß und Initiator*innen der bis dato neun Spielstraßen 2020 in Tempelhof-Schöneberg zum Erfahrungsaustausch.

Wichtig war für uns alle, dass während der vereinbarten Spielstraßenzeit keine Autos in den Straßen parken. Denn nur dann entsteht das Gefühl von Platz und freier Fläche. Nur dann wird klar, wie viel Raum der ruhende Verkehr gewöhnlich einnimmt. Gleichzeitig entsteht auch gedanklicher Freiraum für neue Nutzungen.

 

In dem folgenden Film aus der Brünnhildestraße in Friedenau, haben wir die beiden Straßensituationen gegenübergestellt.

Wir sind so sehr an voll geparkte Straßen gewöhnt, dass diese ungewohnte Leere auch eine Herausforderung sein kann. Und so entsteht beinahe jedes Mal die gleiche bange Frage zu Beginn einer Aktion: wird unser Angebot angenommen? 

Wenn dann die ersten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen auftauchen, die ersten Kreidezeichnungen auf dem Boden sind, Kleinstkinder juchzend den Slalom im Bobby-Car ausprobieren, Ballspiele in Gang kommen und Bänke sich mit Nachbar*innen füllen, dann ist die Umwandlung des öffentlichen Raums in lebendiges Miteinander überzeugend.

Um möglichst vielen Kindern, diese Erfahrung zukommen zu lassen, ist es wichtig, sich bei der Festsetzung der Zeiten mit den umliegenden Schulen, KiTas und Horts zu deren Schließzeiten auszutauschen oder mit ihnen auch abzusprechen, wie sie dieses Angebot nutzen möchten.

Die Unterstützung einer Institution vor Ort als Standort, wo z.B. bereits Spielgeräte etc. vorhanden ist, hat sich im Verlauf des Jahres als hilfreich erwiesen. In der Steinmetzstraße und auch in der Barbarossastraße kooperieren die Initiator*innen mit den dort ansässigen Familienzentren des Pestalozzi-Fröbel-Hauses. Über sie kann auch Kontakt zu der Nachbarschaft und den umliegenden Institutionen hergestellt werden.

Und dennoch sind nicht alle begeistert über diese Änderungen in einer Straße. Zwischen Bülow- und Alvenslebenstraße, zum Beispiel, ist die Steinmetzstraße eine Fußgängerzone. Doch es gibt quasi ein Gewohnheitsrecht mit dem Auto dort hineinzufahren. Deshalb riefen die Absperrungen für die Spielstraße bei manchen Empörung und Diskussionen hervor. 

– Um Missverständnissen vorzubeugen: Rettungsdienste, Pflegedienste und andere Notfahrzeuge haben auch während einer Spielstraße Zufahrt in Schrittgeschwindigkeit. – 

Mit einigen Empörten konnten wir sprechen. Sie packten ihre Einkäufe dann in die von uns angebotenen Einkaufswagen und schoben sie die letzten 150 Meter zu ihrem Hauseingang. Andere jedoch parkten den noch offenen – aber dennoch nicht zum Parken freigegebenen – Bereich zu, um dann gleich nach dem Abbau der Absperrbarken in die Steinmetzstraße – illegal – einzufahren. 

Ebenfalls in der Steinmetzstraße verunsicherte unsere „Demonstration für Spielstraßen“ einige Nachbar*innen und sie sahen von einer Teilnahme ab. Andere wiederum genossen es sichtlich, ihren Ärger über die Aneignung der Fußgängerzone durch autofahrende Nachbarn zum Ausdruck zu bringen.

In Friedenau widersetzten sich die Bewohner*innen eines Hauses dem Spielstraßenangebot, weil sie angeblich weder informiert noch im Entscheidungsprozess eingebunden worden seien.

Doch wie kann hier eine Abwägung geschehen? Schließlich braucht es mehr als einen Termin, damit Spielstraßen als ein attraktives Angebot wahrgenommen werden könnten. Sichtbarkeit und Verlässlichkeit des Angebotes für und Teilnahme der Nachbar*innen sind wichtige Erfolgskriterien.

Zunächst sind Spielstraßen gelebte Demokratie in Form von Abstimmung mit den Füßen. Wenn Kinder am Ende fragen, wann denn die nächste Spielstraße sei, kann dies als Zustimmung gewertet werden. Eine Spielstraße wiederum, die über Wochen von den Nachbar*innen gemieden wird, wird auch den Initiator*innen keinen Spaß machen.

Gleichzeitig sollten die Anwohnenden während der Spielstraßenzeit Gelegenheit zum Gespräch und zu Stellungnahmen erhalten. So können Konflikte und Beschwerden gegen positive Zustimmung abgewogen werden. Erst dann kann der nächste Schritt erfolgen: Spielstraßen als ein dauerhaftes Angebot einzurichten, das auch vom Bezirk unterstützt werden kann.

Im November erklärte dann die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klima bei einem virtuellen Treffen, dass sie die positive Resonanz am 22. September 2020 als Auftrag ansähen, „dieses Ereignis nicht nur in 2021 zu wiederholen, sondern das Thema grundsätzlich anzugehen und weiterzubearbeiten.“


Und: „Mit dem autofreien Tag 2020 konnte die rechtliche Situation vertiefend geklärt und wertvolle Erfahrungen gesammelt werden. Außerdem wurden die einzelnen Bezirke für das Thema sensibilisiert, teilweise konnten produktive Kontakte zu den für die Genehmigung von Temporären Spielstraßen zuständigen Straßenämtern aufgebaut werden.“ Geplant ist nun die Erstellung eines Leitfadens, der sowohl Handlungsorientierung für die Bezirke als auch ein Wegweiser für Nachbarschaftsinitiativen sein soll.“

Das Spielstraßenjahr 2020 in Tempelhof-Schöneberg endete dann leider ziemlich abrupt. Eigentlich wollten wir in der Steinmetzstraße gemeinsam mit der Verkehrsschule am Sachsendamm zwei Rad-Spielzeiten anbieten. Hier sollte es Rad-Lern-Angebote für groß und klein geben.

In der Barbarossastraße wollten sich die Anwohnenden, die sich am 22. September zusammengefunden, auch noch einmal aktiv werden. Bei dem Treffen mit Stadträtin Christiane Heiß war für alle Initiativen eine Unterstützung durch das Bezirksamt vereinbart worden. Doch die weiteren Einschränkungen aufgrund der Pandemie machten uns einen Strich durch die Rechnung.

Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Denn das Jahr 2020 hat uns gezeigt: Temporäre Spielstraßen sind keine Selbstläufer, benötigen viel Initiative aus der Nachbarschaft und sind eine Bereicherung für die Nachbarschaft.

Temporäre Spielstraßen sind ein Baustein innerhalb der lokalen Verkehrswende. Sie sind effektive Instrumente, um Straßen in Aufenthalts- und Begegnungsorte für Menschen umzuwandeln. Durch sie kann der öffentliche Raum zu bestimmten Zeiten wieder zum erlebnisreichen Spiel- und Nachbarschaftsort werden. Autos haben in ihnen nichts zu suchen. Spielende Kinder, schwatzende Nachbar*innen, kreative und engagierte Eltern sehr wohl.

Kontaktadressen
Als Kiez erFahren stehen wir Initiativen mit Beratung und Tipps für die lokale Umsetzung zur Verfügung.
info@kiezerfahren.berlin

Cornelia Dittrich, Bündnis Temporäre Spielstraßen
(030) 700 94 25 – 90 –  info@spielstrassen.de

Diesen Beitrag teilen